Wie wir durch Worte die Identität von Kindern prägen
12.30 Uhr: Ich stehe im Vorraum eines Kindergartens. Eine Mutter mit ihrem kleinen Sohn an der Hand läuft an mir vorbei. Im Hintergrund höre ich, wie das Kind quengelt und trotzt. Es will weiter spielen. Die Mutter versucht, gelassen mit dem Kind umzugehen. Mit einer imaginären Pistole zielt sie in Richtung ihres Kindes, jagt ihm nach und ruft dabei: „Ach, du bist doch ein kleiner Teufel!“ Ich bin sprachlos.
Ich erinnere mich an eine ähnliche Situation einige Jahre zuvor. Ich führe ein Gespräch mit der Mutter eines lebhaften Dreijährigen. Während der Unterhaltung fordert der Junge durch immer neue grenz-überschreitende Verhaltensweisen fast die gesamte Aufmerksamkeit der Mutter für sich ein. Ich spüre, wie unangenehm der Frau diese Situation ist. Trotzdem erschrickt es mich, als sie zu dem Kind sagt: „Ach, was bist du doch für ein kleiner Satansbraten!“
Ich frage mich, welches Selbstbild dieser Junge entwickeln wird. Wie tief kommt eine solche negative Botschaft an? Wie mag so ein Kind über sich selbst denken, wenn es solche Worte häufiger zu hören bekommt?
Die Macht der Zunge
In der Bibel ist die Rede von der Macht der Zunge (Jakobus 3). Sie wird verglichen mit dem kleinen Ruder, das dennoch die Macht hat, große Schiffe zu lenken; und mit einem winzigen Feuer, das einen ganzen Wald in Brand setzen kann.
Sind wir uns dessen bewusst, wenn wir mit unseren Kindern sprechen?
Als wir uns als Eltern mit diesem Thema beschäftigten, fielen uns Situationen auf, in denen wir Gefahr liefen, die Identität unserer Kinder negativ zu prägen. Oft waren es scheinbar nur „Nebensätze“ oder daher gesagte Floskeln; manchmal auch unbedachte Formen von Verniedlichungen, für deren Unangemessenheit wir nach und nach sensibler wurden.
So machten wir eine prägende Erfahrung, als eines unserer Kinder im Winter für längere Zeit erkältet war. Wenn die Nase unseres Sohnes lief, empfingen wir ihn zum Naseputzen mit den Worten: „Ach, du armes Schnupfnäschen!“ Interessant: Dieser Schnupfen wollte gar nicht mehr weggehen! Wie sollte er auch? Haben wir ihn durch unsere Worte nicht schon zum Persönlichkeitsanteil unseres Kindes werden lassen? Unser Kind „hatte“ nicht nur Schupfen, nein, er war „das Schnupfnäschen“! Es wird nicht überraschen: Der Schnupfen klang ab, als wir begonnen haben, unsere Worte bedachter zu wählen.
Worte werden Wirklichkeit, wenn wir sie aussprechen.
Dies vollzieht sich in der Regel umso mehr dort, wo wir die Möglichkeit haben, die Identität von Kindern zu prägen!
Wir können wählen, ob wir das Selbstbild unseres Kindes positiv stärken wollen, oder ob wir ihm in der Suche nach seiner Identität verunsichernd – oder sogar wie in den Beispielen demütigend und negativ begegnen!
Kinder positiv motivieren und stärken
Im Erziehungsalltag hat es uns geholfen, unsere Worte und Einstellungen an folgenden Kriterien zu prüfen:
Statt negative Bezeichnungen zu wählen, wollen wir unsere Kinder positiv ermutigen. Wir wollen keine noch so niedlich bedruckten T-Shirts kaufen, auf denen „Kleine Zicke“ oder „Hier kommt Ärger!“ draufsteht.
Wir sind davon überzeugt, dass uns Gott mit unseren Kindern auch keine „kleinen Stinker, Zwerge, Nervensägen oder Quengelköpfe“ anvertraut hat, sondern einmalige Wunder: Menschenkinder aus seiner Schöpfung, mit vielen sichtbaren und teils noch unsichtbaren Gaben und Fähigkeiten!
Dies wollen wir ihnen auch durch unsere Worte vermitteln. Möglichst jeden Tag wollen wir ihnen neu sagen, dass sie etwas Besonderes für uns sind; dass wir uns über ihre Stärken freuen und wofür wir sie schätzen!
Statt ihnen wiederholt negative Verhaltensweisen vorzuwerfen, wollen wir unsere Kinder neu stärken. Wir wollen sie unterstützen, Schwächen in ihrem Persönlichkeitsprofil besser zu begegnen. Ich will weiter glauben, dass sich mein Kind bemüht, persönlichkeitsbezogenen Schwächen zu begegnen. Ich möchte das Kind trotz Enttäuschungen auf diesem Weg weiter ermutigen und unterstützen.
Auswirkungen gesprochener Worte
Ich möchte immer mehr lernen, negative Gedanken und zu schnell entgleitende Worte zu lassen. Wie zum Beispiel: „Ach, ist ja wieder typisch, du kommst natürlich wieder zu spät“ oder „Nie kannst du Ordnung in deinem Schulranzen halten“.
Ich will auch nicht respektlos und abwertend über meine Kinder sprechen. Der Erfahrungsaustausch mit befreundeten Vätern und Müttern über die Herausforderungen des Erziehungsalltags ist sicher hilfreich. Kinder haben allerdings sehr sensible Antennen dafür, was über sie gesprochen wird – auch wenn sie dabei im Nebenraum scheinbar sehr konzentriert miteinander spielen.
Es wird ihr Selbstwertgefühl positiv aufbauen, wenn sie mitbekommen, dass Mama und Papa lobend über sie sprechen, statt vor anderen über ihre unerwünschten Verhaltensweisen zu klagen.
Statt sie negativ festzulegen, wollen wir unsere Kinder mit Gutem segnen. In seinem Bestseller „Das Geheimnis glücklicher Kinder“ (Heyne 2001) vergleicht der australische Psychologe und Familientherapeut Steve Biddulph die Auswirkungen von negativen Du – Botschaften mit „Hypnose“ bzw. „Programmierung“.
Da Kinder keine objektiven Vergleichsmöglichkeiten haben, prägen solche Worte wie „Du bist faul… zu blöd… kannst ja eh nicht singen…bist wie dein Onkel (der vielleicht drogenabhängig wurde oder heute im Knast sitzt)…bist noch zu klein dafür…“ ihr Selbstbild. Die Auswirkungen solchen Verhaltens erleben wir, wenn Menschen zu uns zur Beratung kommen und erzählen, unter welchen ungesunden Lebensmustern sie heute leiden.
Umso mehr können wir unsere Kinder stärken, wenn wir sie mit Gutem in ihrem Alltag segnen. Je nach Situation beten wir für unsere Kinder und segnen sie mit Mut, Ruhe, Gelassenheit, Konzentration, einem offenen Herzen, Friedfertigkeit.
Orientierung geben ohne Druck auszuüben
Statt das Verhalten zu beschreiben, das unsere Kinder nicht tun sollen, wollen wir ihnen positive Ziele vermitteln. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass das klassische Beispiel „Denken Sie jetzt bitte nicht an einen blauen Elefanten!“ auch in der Kindererziehung greift.
Insbesondere kleine Kinder haben die Fähigkeit, das Wort „nicht“ auszublenden und bei dem gut gemeinten Zuruf „Fall nicht runter von der Mauer!“ nur an „Mauer“ und „Runterfallen“ zu denken! Oft fallen sie dann auch meist wirklich!
Noch extremer wird es, wenn ihnen das negative Verhalten schon im Voraus prophezeit wird: „Pass auf, du fällst gleich!“, „du verbrennst dich!“, „du wirst krank!“
Wie viel mehr innere Stärke und gesunde Identität können wir unseren Kindern vermitteln, wenn wir ihnen stattdessen sagen: „Halt dich gut fest, mein Schatz!“ oder „du schaffst das!“, „wenn du mich brauchst, dann helfe ich dir und gebe dir meine Hand!“.
Durch vorsichtigere Formulierungen lassen wir auch Raum für positive Situationsausgänge, etwa: „Es könnte dir weh tun, weil die Flamme sehr heiß ist!“ oder „es besteht die Gefahr, dass du dich erkältest!“
Die hier erwähnten Orientierungshilfen bedeuten nicht, dass wir unsere Kinder nur loben sollen, ohne ihnen andererseits angemessene und klare Grenzen zu setzen!
Entscheidend ist, mit welchen Botschaften wir ihnen täglich begegnen. Sind diese entwertend, demütigend und festlegend oder sind sie so differenziert, dass zwischen Person und Sache unterschieden wird, so dass innere Stärke und Selbstwert des Kindes dabei wachsen können?
Rückblick in die eigene Vergangenheit
Es lohnt sich, auch einmal selbst auf die innere Reise zu gehen: Wo haben mich Worte von meinen Eltern, Geschwistern oder Großeltern geprägt? Welche Botschaften haben Lehrer, Pastoren, Älteste, Freunde über mich gesprochen? Was hat mich davon positiv beeinflusst, was negativ? Wo ist es vielleicht nötig, konkret zu vergeben?
Gibt es heute negative Worte und Festlegungen, für die ich vielleicht mein eigenes Kind um Vergebung bitten sollte?
Nur Mut – es ist nie zu spät dafür!
Insbesondere die ehrlich ausgesprochen Worte „Es tut mir leid“ und „Ich vergebe dir“ zeigen oft ungeahnte Auswirkungen und machen einen positiven Neuanfang möglich.
Eure Gudrun Just